Als kleines Kind beindruckte mich das Meer immer wieder auf´s Neue. Ich bin direkt am Meer aufgewachsen. Das Haus meiner Eltern befand sich drei Kilometer vom Strand entfernt. Je nach dem, wo der Wind her wehte, hörte ich das Meer. Porto ist eine riesen Metropole und immer, egal wo die Menschen stehen, hören sie das Geräusch von Autos im Hintergrund. Um so mehr war es für mich unbegreiflich, das Meer zu hören, ganz besonderes, weil drei Kilometer für ein kleines Kind eine ganz schöne Entfernung ist. An verregneten Herbsttagen, wenn die Feuchtigkeit bis in die Knochen dringt und die Melancholie an alle Seelen Platz nimmt, blieben die Menschen lieber gemütlich zuhause und sahen fern. Heizung gab es nicht. Die Menschen schienen sich nicht nach draußen zu trauen, als wären sie aus Zucker gemacht. Autos fuhren dann wenig, oder gar nicht. An solchen Tagen, wenn ich hinaus ging, gab es keine anderen störenden Geräusche und ich hörte das Meer. Die Möven flogen tief, in kleinen Kreisen und schrien. Möwen können richtig laut und unheimlich schreien. Dann wussten wir, dass Sturm an der Küste herrschte. Das Meer war immer present, ganz egal ob in meiner ganzen Freiheit oder in meinen ganzen Ängsten.
Früher hasste ich es, sonntags mit meinen Eltern an den Strand zu fahren. Nicht, weil es Sonntag war oder weil ich nicht mit meinen gezwungenen Freundschaften in unserer Straße spielen durfte, nein: es war Kirchtag. Aber warum jetzt die Kirche? Die Kirche war fünf Minuten von zuhause zu Fuss entfernt und nicht am Strand. Ganz einfach, ich komme aus sehr einfachen Verhältnissen, wie fast alle Portugiesen auch. Dies hängt viel mehr mit der Geschichte Portugals zusammen. In Portugal gab es ein Diktatur, die 41 Jahre lang das Volk ausbeutete und dazu 14 Jahre Kolonialkrieg in Afrika. Das Land befand sich in einem sowohl finanziell als auch psychisch schlechten Zustand. Was macht ein Volk, welches verzweifelt, unterdrückt und bis zum letzten Tropfen ausgepresst wird? Das Volk sucht einen Zusammenhalt, in diesem Falle die Kirche. Die Portugiesen sind ohnehin zu 99% Katholiken. Ich gehöre zu den anderen Außenseitern von ein Prozent und besitze meine eigene Religion, obwohl ich gelernter Katholik bin. Und so war das Ritual am Sonntag extrem wichtig. Einmal in der Woche, wurde am Samstag gebadet. Sonntags mussten wir die “Hochzeitsklamotten” anziehen und den ganzen Tag damit herum laufen. Aber wenn ein kleiner Fleck darauf kam oder kaputt ging, war gleich Arschvoll angesagt, da wir auch kaum Gutes zum Anziehen hatten. Hey liebe Leute und so gehe ich zum Strand. Meine Eltern blieben bei jedem Wetter im Auto sitzen. Mein Vater hörte im Radio Fussball und meine Mutter hatte immer die Aufgabe, zu kontrolieren was ich mit meiner Schwester am Strand anstellte. Ich hasste es, nichts anfassen zu können, nicht im Sand spielen zu dürfen und mir nicht zu erlauben, ausversehen auf den Boden zu fallen. Was für eine Qual, als Kind meinen freien Tag so zu verbringen. Trotz alledem darauf zu verzichten wollte ich nicht. Es war die Stimmung dort, mal nebelig, mal windig, Ebbe, Flut, der Geruch, die Möwen und die Schiffe, die gestrandeten Schiffe. Genau diese gestrandeten Schiffe vor Porto´s Küste haben mich als Kind sehr beeindruckt.
Der Atlantik mit dieser Wucht, diesen Wellen: zwischen fünf und acht Meter hohe Wellen im Herbst und Winter sind keine Seltenheit. Immer wieder werden Teile der Küste verwüstet, die Kraft und Wucht, aber auch die unendliche Faszination des Meeres.
Die Küste bei Porto ist ein regelrechter Schiffsfriedhof, ständig strandeten Schiffe. Im Kindergarten spielten wir immer Rettungsaktion nach. Was für ein Schauspiel, wenn am Strand riesige Masten errichtet wurden, welche per Seil mit dem Schiff verbunden waren, um die Insaßen zu retten. Denn meistens konnte auf Grund des Windes kein Hubschrauber fliegen. Mein Vater war sehr neugierig und wie wir alle natürlich auch. Kaum kam die Meldung im Radio, Auto aus der Garage und die Hauptstrasse hinunter zum drei Kilometer entfernt Strand. Und schon erlebten wir Kino pur und zwar Live. Die Schiffe blieben meistens dort, wo sie strandeten. Das Meer räumte es mit der Zeit aus dem Weg. Die Strände verwandelten sich in große Attraktionen und dannach in Sammelplätze. Am Strand lagen dann Millionen von Bananen, Kerzen, Kartoffeln. Alles wurde aufgesammelt, denn die Menschen hatten nicht viel und es bereitete auch sehr viel Spass.
Sogar ein japanisches Schiff kennterte und verlor seine Autos. Die Autos sind alle an den Strand gespült worden. Es gab eines der größten Polizeiaufgebote und GNR, eine Art Grenzpolizei, um zu verhindern, dass die Autos vom Strand mitgenommen wurden. Mein Gott, was für Bilder.
Die Schiffe brachen mit der Zeit langsam auseinander und wir fanden Spass daran, zu entdecken, welches Teil an diesem Tag fehlte. Aber im Winter verschwanden die Schiffe recht schnell, rasche Selbstentsorgung.
Jahre später bin ich mit meinen eigenen Kindern dort gewesen. Ich erzählte ihnen diese Geschichten und gab wieder, wie ich mich damals als Kind fühlte. Wir betrachten ein Schiff, welches versuchte in den Hafen zu peilen und heftig von den Wellen geschaukelt wurde. Da standen wir, dort auf einem Felsen bei bis zu sechs Meter hohen Wellen und erheblicher Windstärke, so dass wir uns alle gegenseitig festhalten mussten. Wir sahen wie damals die Schiffe in den Hafen hinein fahren. Wir dachten die ganze Zeit, das Schiff würde es nicht schaffen. Welle hinauf, Welle herunter, bis es doch in ruhigeres Gewässer kam und in den Hafen hinein gleitete. Welch eine Erleichterung und genau dieses Gefühl kam wieder in mir hoch.
… plötzlich mochte ich nicht mehr ins Wasser gehen, es wurde mir zu unheimlich…